#33 Frauen

33 Frauen – #3 Anaïs Nin

3. August 2020
Anaïs Nin

33 Frauen, die mich sehr inspiriert haben (Projekt #33frauen) und eine davon ist Anaïs Nin. Anaïs Nin oder genauer: Angela Anaïs Juana Antolina Rosa Edelmira Nin y Culmell. Nin war Schriftstellerin und noch so viel mehr. 1903 geboren, war sie in den 20er Jahren in ihren Zwanzigern und hat für mich all das verkörpert, was man mit den Roaring Twenties (den Goldenen Zwanzigern) verbindet. Eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, eine Blütezeit der Kunst, Wissenschaft und Kultur. Eine Zeit, die 1929 in eine Weltwirtschaftskrise lief, die mit dem Börsencrash in New York begann und in vielen europäischen Ländern bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 anhielt.

Anaïs Nin

Die Goldenen Zwanziger – eine Art Zwischenzeit. Zwischen zwei Weltkriegen, ein Aufatmen nach dem ersten Weltkrieg (1914-19) oder vielleicht doch eher ein kurzes Aufbäumen vor dem Zweiten Weltkrieg. Wie Bäume vor dem Absterben noch einmal ganz stark ausschlagen und blühen. Frech, überbordend, frei, verrückt.

Eine Zeit, in der meine etwa gleichaltrigen Omas heirateten und ihre Kinder (meine Eltern) bekamen. No judgment. Anaïs Nin hatte nie Kinder, erkrankte 1974 an Gebärmutterhalskrebs und starb 1977 daran. Ich erwähne das hier, weil ihre Weiblichkeit und Sexualität ihr ganzes Leben bestimmt haben, sie überbordend und ausschweifend war und diese Krankheit – passte. Ohne Wertung und schon gar nicht als Bestrafung zu sehen, aber ein letzter Fanfarenstoß. Sterben an etwas, an dem nur eine Frau sterben kann. Dah!

Die Tagebücher

Ich habe Anaïs Nin in meinen Zwanzigern kennengelernt. Und zwar durch ihr bekanntestes Werk, ihre „Tagebücher“. Und war fasziniert. Das war eine neue Form von Tagebuch, roh, echt, ehrlich und gleichzeitig vollständig künstlich-künstlerisch. Nin schreibt über ihre Gefühle, Gedanken, aber achtet auf eine gute Form, verwandelt und präzisiert. Man kann ihr beim Schreiben, beim Finden der Gedanken zusehen, mein kann lernen wie Schreiben, wie Leben geht.

Ich hatte mit neun Jahren auf Vorschlag meines Vaters selbst angefangen, Tagebuch zu schreiben. Das wird später sehr wichtig für dich sein, sagte er. Oder so ähnlich. Natürlich wollte ich alles machen, was später und auch sofort für mich wichtig sein könnte, also schrieb ich. Tagebuch schreiben wurde zu einem wichtigen Teil meines Lebens.

Mit sechzehn vernichtete ich alles kindlichen Tagebücher, die eigentlich nur voller Listen waren. Zur Schule gegangen//Hamsterkäfig sauber gemacht//gespielt. Heute würde mich rasend interessieren, wie mein Alltag mit neun ausgesehen hat, damals fand ich es beschämend langweilig und banal.

Tägliches Schreiben

Ja, was sind Tagebücher überhaupt? Das kennt man ja, dass man immer zum Tagebuch greift, wenn man frustriert ist oder Liebeskummer hat. Es ersetzt die fehlende Gesprächspartner*in. Nicht so bei Anaïs Nin. Ihre Tagebücher sind sorgfältig verarbeitete Erinnerungen, die sich aber anfühlten wie aus dem Moment verfasst. Aus der Stimmung heraus geschrieben. Da ahnte man das Leben. Voller Musik, Kunst, Literatur. Intellektuellen Gesprächen und Gedanken. Aber auch ungeschönt, hart, wild. Man macht Fehler, man verliert die Dramaturgie, man baut Mist, man rappelt sich wieder auf.

Anaïs Nin

Mitte Zwanzig interessierte mich Literatur//Kunst und ich war mir ganz sicher, gute, interessante Kunst kann nur machen, wer Lebenserfahrungen hat. All das, was ich nicht hatte, aber unbedingt haben wollte. Mich interessierte das Leben. Mich interessierte, was das Leben mit einem macht.

Künstlerin sein, heißt das Leben aufsaugen, sich schmutzig zu machen, eintauchen in alles Fleischliche und Theoretische. Alles ansehen, alles verarbeiten, und dann auf Papier oder die Leinwand bringen. All das fand ich bei Anaïs Nin.

Kindheit

Anaïs Nina Leben ist vollgepackt mit Erfahrungen, mit Schicksalsschlägen, mit Kunst und Schreiben, mit Liebe und Sex. Die Eltern Künstler, der Vater Pianist, die Mutter Sängerin, trennten sich als Nin zwei war. Sie wuchs in New York auf, verließ die römisch-katholische Kirche und die Schule mit sechzehn und verdiente sich ihr Geld als Künstlermodell. Mutig, trotzig, und offenbar ohne den Filter: Geht das? Darf man das?

Was später herauskam, als alle Tagebücher hervorgeholt wurden: Mit neun – so sagt Nin in ihrem Tagebuchband Inzest  – vom Vater missbraucht. Dass aufschreiben zu können – ist unglaublich. Ebenso schwierig zu verstehen, was es mit ihr gemacht hat.

Doch von ihrer Kindheit, den frühen Tagebüchern, wusste ich damals nichts. Die Tagebücher, die ich las, waren die bei DTV erschienen Taschenbücher, stark redigiert und zensiert. Das hieß, dass etliche Personen nicht genannt wurden wie zum Beispiel ihr Ehemann, ein Bankier, den Nin mit zwanzig heiratete. Erst 1992 erschienen die unzensierten Tagebücher, doch da war ich an einem anderen Punkt in meinem Leben.

Mit war klar, dass die Tagebücher zensiert waren, und auch ohne Wikipedia war es bekannt, dass ihr Mann nicht genannt werden wollte. Beim Lesen hatte ich oft den Eindruck, dass er die Position eines Vaters einnimmt. Abwesend, doch ein Versorger und Beschützer im Hintergrund, den Nin offensichtlich betrog und hinterging und belog, den sie aber ohne Probleme als Sicherheitsnetz nutzen konnte.

Dieser Widerspruch – totale Offenheit und gleichzeitig ein seltsames Verhältnis zur Wahrheit – hat mich fasziniert und beschäftigt. Was mir klar wurde: Ein Tagebuch braucht die Wahrheit – die Kunst/Literatur nicht.

„I tell so many lies I have to write them down and keep them in the lie box so I can keep them straight.“ (National Public Radio (NPR). July 29, 2006. Retrieved February 16, 2011.)

Schreiben und Psychologie

Nach der Schule wollte ich Psychologie studieren, doch rückblickend wollte ich gar nicht die Theorie, ich wollte die Praxis. Ich wollte ein Leben, so bunt und grausam wie das von Anaïs Nin. Doch das Interesse an der Psychologie oder vielleicht genauer gesagt an Menschen, blieb und das fand ich auch in Nins Tagebüchern. Nin studierte Psychologie, intensiv und auf ihre eigene Weise. Sie ging in Psychotherapie, ließe sich erst 1932 von René Allendy „behandeln“, später von Otto Rank. Nach eigenen Aussagen wurden beide ihre Liebhaber.

Anais Nin und George Leite im Daliel’s Bookstore, Berkeley, 1946

Ich habe etwa zehn Menschen in meinem Leben getroffen, die sich einer Psychotherapie oder Analyse unterzogen haben und drei davon sind eine kurze oder auch sehr tiefe und lange sexuelle Beziehung zu ihren Therapeuten eingegangen, also denke ich, es ist naheliegend und nicht nur typisch für Anaïs Nin, deren Interesse an Menschen sich sehr oft in eine Liebesbeziehung verwandelte. Mir zeigte es vor allem, dass Pysche und Körper sehr eng miteinander verwoben sind und sich eben nicht alles über den Kopf klären kann. (Wovon ich bis zu meiner Pubertät eigentlich ausging.)

Ich selbst habe mich bei meiner ersten Psychotherapie (mit +-27) allerdings mit Vorbedacht für eine sehr viel ältere und weibliche Therapeutin entschieden.

Kunst und Psychologie

Die Psychologie und besonders Rank halfen Nin nach eigenen Aussagen besonders in ihrer künstlerischen Entwicklung und ihrem Schreibprozess.

„As he talked, I thought of my difficulties with writing, my struggles to articulate feelings not easily expressed. Of my struggles to find a language for intuition, feeling, instincts which are, in themselves, elusive, subtle, and wordless.“ Nin, Anaïs (1966). The Diary of Anaïs Nin (1931-1934). 1. Harcourt, Brace & World. S. 279)

Bei Kriegsbeginn verließ Nin Frankreich und ging nach New York, wo Otto Rank auch gerade angekommen war und zog zu ihm in sein Appartement. Dort arbeitete sie selbst als Psychologin. Und genauso selbstverständlich, wie sie Sex mit Rank hatte, wurden ihre Patienten ihre Liebhaber. Sex als Mittel zur Selbstfindung? Oder Machtausübung? Oder einfach Schwäche? Aber auf jeden Fall als wichtiger Bestandteil des künstlerischen Lebens.

Nach einigen Monaten gab sie ihren selbsterfunden Job aber wieder auf:

 „I found that I wasn’t good because I wasn’t objective. I was haunted by my patients. – I wanted to intercede.“ (The New York Times. Retrieved September 1, 2017)

Mich beeindruckte, dass und wie Nin sich alles nahm, was sie brauchte. Ohne zu fragen, ob das okay war, gerecht, anständig. Ohne auf etwas anders zu achten, als sich selbst. Da war ich zwar anderer Meinung oder auch anders erzogen, aber die Faszination blieb und die Erkenntnis: Ohne einen gewissen Egoismus wird man keine gute Künstlerin.

Anaïs Nin und Henry Miller

Ich bin nicht nur ein Anaïs Nin, sondern auch ein Henry Miller Fan, dessen Bücher ich zum gleichen Zeitpunkt gelesen habe. Vielleicht bin ich auf Henry Miller auch nur über Nin gestossen, was ich jetzt nicht mehr so genau nachvollziehen kann.

Anaïs Nin und Henry Miller

Als Anaïs Nin 1931 auf Miller traf, war sie eine  achtundzwanzigjährige verheiratete Frau und Miller – ebenfalls verheiratet – stand kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag. Er war in zweiter Ehe mit June verheiratet, mit der er eine leidenschaftliche und selbstzerstörerische Ehe führte. Heute würde man die Beziehung vermutlich toxisch nennen.

Nin und Miller glichen sich in der Art, ihren Lebenshunger auf eine gnadenlose, rücksichtslose und kompromisslose Art auszuleben. Beide hatten viel Sex und konnten sehr gut darüber schreiben. Ich spürte, es kam alles aus dem Unterleib, es war nicht verkopft, obwohl beide sehr intelligent waren und viel miteinander diskutiert haben. Überhaupt – guter Sex und Intelligenz sind keine Gegensätze.

Sex und Schreiben

Nin is hailed by many critics as one of the finest writers of female erotica. She was one of the first women known to explore fully the realm of erotic writing, and certainly the first prominent woman in the modern West known to write erotica. Before her, erotica acknowledged to be written by women was rare, with a few notable exceptions, such as the work of Kate Chopin. (Quelle)

Ich habe Nins erotische Bücher „Deltas der Venus“ etc nie gelesen. Nach eigener Aussage( in ihren Tagebüchern) waren es Texte, die sie gleich nach ihrer Ankunft in Amerika für reiche Auftraggeber schrieb, um Geld zu verdienen. Mein Interesse daran ist gleich null. Genauso, wie Sex mit Menschen, die dafür bezahlen etwas anders ist, als Sex mit einem geliebten oder zumindest anziehenden Menschen, sind Auftragstexte  – immer etwas leblos.

Nin hatte ein Verhältnis mit Miller, aber auch eines mit seiner Frau June. Anziehung ist unabhängig vom Geschlecht und die große Liebe reißt alles mit sich. Was Nin über ihre Beziehung zu Miller schrieb, konnte ich sehr gut nachvollziehen. In diesem Fall waren Liebe und Leidenschaft zusätzlich mit einer großen Passion für die Kunst verbunden, dem Schreiben. Ich konnte oder wollte hier auch nie eine Trennung haben. Wen ich liebe, der musste auch die Kunst mit mir teilen. Dass diese doppelte Leidenschaft Opfer kosten würde, wurde mir erst später klar.

You carry your vision, and I mine, and they have mingled. If at moments I see the world as you see it, you will sometimes see it as I do.” (Anais Nin to Henry Miller. A Literate Passion: Letters of Anaïs Nin and Henry Miller, 1932-1953)

Nin vermutet, dass sie 1934 von Miller schwanger wurde, das Kind trieb sie ab.

Leidenschaftliches Schreiben

Anaïs Nin

Ich habe schon vor der Schule lesen gelernt und habe früh angefangen, eigene Texte zu schreiben, Versuche. Schreiben hat für mich bis heute mehr mit Emotionen zu tun als mit Verstand. Das heißt nicht, dass diese Texte unintelligent, schwülstig, kitschig oder hochemotional sein müssen.

Es geht darum, die gespürten Emotionen herauszulassen, sie im ersten Entwurf roh und wild stehenzulassen und später mit dem Intellekt zu prüfen, ob das Geschriebene stimmig ist. Das war nichts, was man in der Schule beigebracht bekam. Sich für das Schreiben in sich  selbst hineinzustürzen, war nur im Tagebuch „erlaubt“ und damit auch gleich schon entwertet und wurde auch gerne als „weiblich“ bezeichnet.

Von Anïs Nin habe ich gelernt, das Intellekt und Emotion eine sehr enge Verbindung brauchen, damit gute, interessante, künstlerische Texte//Kunst entstehen können. Und, dass wer nichts erlebt hat, auch nichts Relevantes zu schreiben hat.

Heute ist mein Blick auf ihr Leben anders, aber der Respekt ist geblieben. Ihr scharfer Verstand und ihre Unerbittlichkeit beim Schreiben beeindrucken mich bis heute, auch wenn ich sie nicht mehr um ihr Leben beneide. Von ihr konnte ich auch lernen: Es geht viel, aber nicht alles. Wenn ich an Anaïs Nin denke, dann denke ich #hungrig.

Podcast

Es gibt eine Podcastreihe zu den 33Frauen auf dem Literatur Radio Hörbahn. Jeder Blogbeitrag wird um einen Podcast ergänzt.

https://literaturradiohoerbahn.com/33-frauen-anais-nin-portrait-von-katrin-bongard/

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