Elfriede Hengstenberg
Als ich 1991 mit unserem ersten Kind schwanger war, schenkte mir meine Tante – die Schwester meines Vaters – das Buch „Entfaltungen“ von Elfriede Hengstenberg. Das Buch enthält eine Widmung an mich und meinen Mann mit dem Wunsch, mit uns verbunden zu sein in der Zeit meiner ersten Elternschaft und ihrer Reise nach Afrika. Doch sicher sollte es auch eine Erinnerung an das sein, was Elfriede Hengstenberg meiner Tante und mir beigebracht hat.
Wenn ich zurückdenke, dann wundert es mich, für wie selbstverständlich ich alles gehalten habe, was ich von Frau Hengstenberg oder Hengsti, wie wir sie nannten, gelernt habe. Und wie selbstverständlich es zu mir kam.
„Was mich außerordentlich erfreut, ist die Tatsache, dass sich von manchen Familien bereits die dritte Generation bei mir einfindet und dass diese recht aufgeschossenen und ausgesprochen selbstständige Kindern durchaus anzuspüren ist, dass man sich ganz allgemein um stimmendere Lebensvoraussetzungen bemüht.“ schreibt E. Hengstenberg 1958 an den Musikpädagogik und Mentor Heinrich Jacoby. (aus Entfaltungen)
Kindererziehung war in den 70er Jahren ein großes Thema und ich habe davon profitiert, dass meine Eltern und meine Tante mich und meine Geschwister und eigentlich alle Kinder maximal fördern wollten. Mir kam es nicht seltsam vor, wenn ich zu Bildhauerkursen oder Malklassen gebracht wurde, wenn ich Judo machen durfte oder Segeln ging. Doch – wow – heute bin ich so dankbar für dieses große Angebot. Und die Stunden bei Elfriede Hengstenberg gehörten dazu.
Elfriede Hengstenberg (1892 geboren) war ausgebildete Gymnastiklehrerin, aber noch so viel mehr. 1915 unterrichtete sie privat und an Schulen in Berlin. Nach dem Studium bei Elsa Gindler veränderte sie ihre Arbeitsweise grundlegend.
- „Diese selbständige Entwicklung von Bewegung sahen Pikler und Hengstenberg als Grundlage für eine gesunde Entfaltung der Persönlichkeit. Daher war die höchste Maxime von Elfriede Hengstenberg bei ihrer Arbeit mit Kindern: Achtung vor der Eigeninitiative des Kindes.“[Quelle]
Gymnastik
Initiiert von meiner Tante meldete meine Mutter mich und meine Brüder in den 70er Jahren zu Gymnastikstunden bei Elfriede Hengstenberg an. Wir gingen zusammen mit den Kindern einer befreundeten Familie dorthin, allein das war schon aufregend. Wir waren etwa fünf Kinder zwischen sechs und neun Jahren und es kamen noch etwa drei bis fünf Kinder von anderen Familien dazu. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie es offiziell hieß: Gymnastikstunde oder Sportstunde, denn wir sagten immer: „Wir gehen zu Hengsti.“
Diese Frau war für mich so alt, dass ich ihr Alter unmöglich schätzen konnte. Uralt. Verknittert und aufrecht, auf eine sehr angenehme Art streng und zugleich … magisch. Eine Zauberin wie Mc Gonagall aus Harry Potter.
Die Stunden bei Hengsti waren keine Sportstunden im üblichen Sinne, es ging um viele verschiedene Dinge, die nicht unbedingt Gymnastik waren. Heute würde ich sagen: Eine ganzheitliche Haltung. Um Beweglichkeit, Selbstvertrauen, um Zutrauen zu sich selbst. Wie sie es selbst sagte: Eigeninitiative.
Doch in meiner Erinnerung war es nur – Spielen. Einfach eine Spielstunde. Und das war großartig.
Bewegen & Balancieren
Wir trugen T-Shirts und kurze Shorts oder bunte Frotteeunterhosen. Es fühlte sich nicht nach Unterwäsche an, aber auch nicht nach Sportkleidung. Ich kann mich nicht daran erinnern, mich jemals unwohl gefühlt zu haben, auch nicht verletzlich oder entblößt. Es war wichtig, dass wir uns frei bewegen konnten und ich fand das nicht anders, als zuhause im Zimmer herumzuspringen. In den Stunden waren wir immer barfuß, Turnschuhe kamen nicht vor, sie hätten gestört.
Die Stunden fanden meist in ihrem Wohnzimmer statt. Hengsti wohnte in einer alten Villa, nicht prächtig, aber eindeutig herrschaftlich. Das Wohnzimmer war riesig. Stand da ein Flügel? Ein Esstisch? Lagen Teppiche auf dem Boden? Ich erinnere mich an das Einrollen von Teppichen, einen Parkettboden. Es war also kein Sportraum wie in der Schule, sondern etwas Privates. Unser Turnplatz war am großen Fenster, der Rest des Raumes blieb im Dunkeln.
Doch es gab auch eine Art Ausrüstung: Kletterstanden aus Holz, Balken, Bälle, Bänder, Kissen.
Es gab kleine Holzstühle mit geflochtenen Sitzflächen, mit denen wir sehr verschiedne Dinge machten. Eine Art Grundausstattung. Der Stuhl wurde sofort von seiner normalen Funktion befreit. Er diente als Ablage für Holzstangen, über die wir balancierten, wurde zu Türmen aufgestapelt, die wir erklettern mussten. Wir machten vor allem Geschicklichkeitsübungen. Alle hintereinander, nie wurde jemand vorgerufen oder musste etwas alleine machen.
Die Bilder, die ich hier in den Beitrag gestellt habe, sind aus dem Buch „Entfaltungen“ und sind weit vor meiner Zeit bei Hengsti gemacht worden, aber die Übungen erkenne ich wieder.
Wir mussten oft Dinge auf dem Kopf balancieren. Ein Kissen, einen Ball. Nur wenn man sich konzentrierte, sich ausrichtete, gelang die Übung. Es kam darauf an, den Rücken durchstrecken, aber auch nicht zu starr machen. Sie zeigte uns Bilder von Frauen in Afrika, die aufrecht ihre Lasten auf dem Kopf trugen. Einen Wasserkrug, einen Korb mit Lebensmitteln. Ich spürte, welche Achtung sie vor diesen Kulturen hatte und erinnere mich an Gegenstände in ihrer Villa wie Vasen oder Figuren aus anderen Kulturkreisen.
Sie zeigte uns diese Bilder, damit wir lernen konnten. Die stolze Haltung der Afrikanerinnen, gefiel mir. Ohne es große zu betonen, inspirierte Hengsti unsere Weltsicht, die ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal unsere eigene war. Hunger in Afrika! Wir müssen denen helfen. Aber sie sagte: Ihr müsst von ihnen lernen. So einfach war das.
Draußen
Manchmal gingen wir nach draußen, in die Grünanlage, die direkt gegenüber der Villa lag. Dort balancierten wir Bälle auf Holzlöffeln und mussten damit laufen. Sackhüpfen oder Eierlaufen – aber immer war es etwas anders. Wer wird Erster? – war nie die Frage, sondern eher, ob es überhaupt gelingt und wie lange.
In dem Buch „Entfaltungen“ habe ich ein Bild gefunden, auf dem Kinder mit Fuchsschwänzen durch die Gegend laufen. Und erst in dem Moment ist sie mir wieder eingefallen: Die Sammlung von Fuchsschwänzen an Gummibändern. Vermutlich das Faszinierendste in ihrer Sammlung.
Heute ein No-go. Ich kann mir gut vorstellen, wie grausam das heutige Eltern finden würden, aber … es waren die 70er und Fußschwänze hingen auch noch an Autoantennen und dem Gürtel einiger Männer. Und wir fanden sie cool. Toll, großartig. jeder wollte einen ganz bestimmten Schwanz ergattern. Den roten, den braunen.
Die Idee war nicht nur, sich dadurch in einen Fuchs zu verwandeln, sondern den Bereich zu spüren, wo unsere Wirbelsäule, das Rückgrat endet und früher einmal ein Schwanz ansetzte. Den Tieren hilft er, in Balance zu bleiben, Signale zu senden, zu wedeln oder sich zu sträuben. Uns fehlten etwas, das Hengsti uns mit einem Schwanz zurück gab. Etwas Wildheit. Etwas Uraltes und Wichtiges. Wir lernten, unsere Energie auf dieses neue Körperteil zu lenken. Die Verlängerung des Steißbeins zu erspüren. Und das – verändert die Haltung sofort. Und – keine Ahnung warum – es machte mich/uns gleichzeitig stolz und powerful. Mit Schwanz war alles möglich (oder war das nur mein Gefühl als Mädchen?)
Haltung
Bei Hengsti ging es viel um Haltung. Um einen aufrechten Gang. Aber nicht das autoritäre Geradesitzen, sondern die entspannte aufrechte Haltung. Selbstbewusst, stark, sichtbar.
Jetzt, nachträglich, recherchiere ich. Ach wirklich? War es nicht doch etwas autoritär gemeint? Nicht, dass ich da etwas falsch verstanden habe und da etwas war, in der Lehre, was vielleicht noch aus einer anderen nationalen Zeit übrig geblieben ist. Doch ganz im Gegenteil, was ich finde, erleichtert mich.
Verantwortung
Dirk Jordan, lange Stadtrat für Volksbildung in Berlin-Kreuzberg, hat über Elfriede Hengstenberg und ihre Freundin Gertrud Kaulitz recherchiert und geschrieben. Beide Frauen verstecken während des Nationalsozialismus Verfolgte in ihren Zehlendorfer Häusern.
Elfriede Hengstenberg hat sich an das Zusammentreffen mit Dr. Bobek später so erinnert: „… (…) Trotz mehrfacher Bewachung war es ihm gelungen, während einer Zahnbehandlung zu entkommen, Arzt und Wächter in der Wohnung einzuschliessen, dem Gewehrfeuer aus dem Fenster auszuweichen und im Aussenbezirk Zehlendorf mein Haus zu erreichen. Von hieraus, neu eingekleidet, suchte er auf unseren Rat Gertrud Kaulitz auf, die mit weiteren Freunden seine Flucht nach Markendorf i. d. Mark auf die Hühnerfarm ihrer Schwester Margret Kaulitz ermöglichte. 4 Wochen fand er dort Unterkunft und Verpflegung, bis die Häscher der Gestapo die Farm umstellten, ihn zum 2.Mal verhafteten.“ (Quelle)
1963 schrieb Elfriede Hengstenberg einen Brief an die Senatsverwaltung, durch den die Ehrung der Schwestern Kaulitz als „Unbesungenen Helden“ eingeleitet wurde.
„Sehr geehrter Herr Senator! Hierdurch bitte ich Sie, die 83 Jahre alte Frau Gertrud Kaulitz in Berlin—Schlachtensee, Eiderstaedter Weg 33 in die Berliner Ehrungsaktion einzubeziehen. Frau Kaulitz hat in ihrem Hause während der Nazizeit laufend jüdische Verfolgte versteckt, beköstigt und betreut. Außerdem hat sie den wegen Hochverrats zum Tode verurteilten Dr. Bobeck, den ich ihr zugeführt hatte, nachdem er aus der Gestapohaft geflüchtet war, bei sich aufgenommen und für seine Unterbringung auf dem Lande gesorgt. Hochachtungsvoll Elfriede Hengstenberg“ (Quelle)
Irgendwie ist es typisch, dass sie sich für die Freundin und Mentorin einsetzte und nicht für sich selbst. Bei ihr war wenig EGO, dafür sehr viel Aufmerksamkeit.
Musik und Bewegung
Gertrud Kaulitz war die Klavierlehrerin von Elfriede Hengstenberg und hat ihr zu rhythmischer Gymnastik nach Dalcroze geraten. Émile Jaques-Dalcroze entwickelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Genf eine Musik- und Bewegungsintervention, die für die Vernetzung von Gehirn und Motorik erleichtert.
Es gibt eine spielerische Verbindung zwischen improvisierter Klaviermusik, Singen und wechselnden motorischen Koordinationsaufgaben, die das motorische Gedächtnis und andere spezifische Hirnleistungen stärken. Heute wird das besondere bei alten Menschen eingesetzt, um sie geistig und körperlich beweglich zu halten. Auch etwas, was Hengsti wichtig war: Die Beweglichkeit. Sowohl im Kopf als auch im Körper.
In meiner Erinnerung gab es keine Musik, wenn wir unsere Übungen bei Hengsti machten. Manchmal gab sie mit der Triangel einen Takt vor. Oder habe ich es vergessen?
Geschicklichkeit
Meine liebsten Spiele waren Geschicklichkeitsaufgaben, die meist in eine spielerische Situation integriert waren. Wir sollten uns vorstellen, dass wir auf dem Meer seien. Die Holzhocker wurden umgedreht und waren unsere Schiffe, in denen wir standen. Um uns herum das Meer. Und dann holte sie kleine Spielzeuge. Feste kleine bunte Papierbälle, Gummitiere (die ich als Kind gesammelt habe und … wo sind die eigentlich hin verschwunden?), Glasmurmeln. Die mussten wir nur mit den Füßen greifen und einsammeln, also in unseren Stuhl holen. Nur mit den Füßen.
Die Dinge, die sie für ihre Übungen verwendete, waren für mich magisch. Hübsche Dinge, kaum Plastik nichts Hartes, alles war weich und bunt und angenehm zu ertasten, war verspielt und bunt.
Jetzt fallen mir auch die bunten Papierbälle wieder ein, die wir durch Blasen in der Luft halten mussten. Die wir uns zuwarfen und dann nur mit der Nase annehmen durften. Letztens habe ich sie in einer Ausstellung gesehen und sofort fotografiert. Dinge, die gab es damals im „Chinaladen“ zu kaufen. Wieder eine andere Kultur fällt mir gerade auf, die sie uns wie nebenbei nahebrachte.
Bewegung und Ruhe
Ich habe mich immer schon gerne bewegt, war viel draußen, aber Hengstenberg hat mir nicht nur eine wilde, sondern auch eine stille Art der Bewegung beigebracht. Eine innere Bewegung. Sie hat mir gezeigt, dass ich auf meinen Körper hören kann. Nicht erst, wenn ich Muskelkater oder eine Zerrung habe, sondern dann, wenn ich still auf dem Rücken liege und in mich hinein horche. Etwas, was ich später beim Yoga oder Thai Chi gesucht und wiedergefunden habe. Eine Bewegung, die von innen nach außen geht und von außen nach innen. Achtsamkeit und etwas Sanftes.
Am Ende jeder Stunde, sollten wir uns auf den Rücken legen und die Augen schließen. Wir legten uns hin und hörten ihrer Stimme zu, mit der sie uns aufforderte, jedes einzelne Körperteil zu entspannen. Hengsti hat mir beigebracht, wie ich mein Blut in meine Füße und Hände schicken kann, so dass mir warm wird. Wie ich in den Boden einsinken kann, mit meinem Körpergewicht. Das habe ich als Kind häufig gemacht, wenn ich im Bett gefroren habe. Das war Körperbeherrschung, aber gleichzeitig ein Loslassen, geschehen lassen.
Später hörte ich dann den Begriffe: „Autogenes Training“ und stellte überrascht fest, dass wir genau das immer gemacht hatten. Und ich es schon „konnte“. Sich zur Ruhe bringen, nach einem aufregenden Tag.
Wenn ich bei Hengsti auf dem Boden lag, sah ich Bilder, stellt ich mir mein Leben vor. Dort in der großen Villa konnten alle Träume riesig werden, alles war möglich, weil Hengsti es uns zutraute. Und wollte, dass wir über uns hinauswachsen. Das Gegenprogramm zu Schule. Zu Einengung. Zu Sitzen und sich belehren lassen.
„Regeneration geschieht von selbst, wenn die Organe Raum haben, sich so zu entfalten, dass sie von Atem und Durchblutung fortlaufend belebt werden. Dann besteht ein Gleichgewicht zwischen dem Verbrauch an Energie und ihrer Erneuerung.“ (Aus: Entfaltungen S. 150)
Heute finde ich es erstaunlich, wie sehr sie Dinge vorweggenommen hat, die später erst langsam populär wurden. Parkour oder Freeclimbing. Meditation, Yoga und Autogenes Training. Und ich bin extrem dankbar, dass ich das alles zu einem Zeitpunkt gelernt habe, als Körper und Geist dafür ganz offen waren.
Auch, wenn das Wort im Zusammenhang mit Bewegung vielleicht umstritten ist, habe ich für Elfriede Hengstenberg den Hashtag #aufrecht ausgewählt. Es war nicht nur Bewegung, es war – Haltung. Im Leben zum Leben. Und ich bin sehr dankbar, für alles, was ich von ihr gelernt habe.
No Comments